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tumult

Meine Welt, ein Mythos in drei Akten

Ich bin kein Herakles. Ich bin auch kein Odysseus und kein Orpheus, nein, ich bin kein Sagenheld mit großem Schwert und schnellem Verstand, ich bin kein sagenumwobener Heerführer und auch kein mächtiger Gladiator – und doch scheint meine Welt so ungreifbar zu sein wie die Geschichten über Götterkinder und Monsterbezwinger.

 

Was bin ich dann? Ich bin Autist. Na und?

Akt Eins: Die Welt

Ein Autist ist ein Mensch. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe. Ein Autist ist ein Mensch wie du und ich. Ein besonderer Mensch, so wie du und ich besonders sind. Ein Autist sieht die Welt anders als du. Er fühlt anders als du, denkt anders als du, handelt anders als du, lebt anders als du. Ist das schlimm? Nein. So wie jeder Mensch hat ein Autist seine Eigenheiten. Manche sind offensichtlich, andere scheinen versteckt oder auf den ersten Blick gar nicht da zu sein. So wie jeder Mensch hat ein Autist Wünsche, Ziele, Hoffnungen, Träume. Wieso sagen wir dann Autist und nicht ‚normale Person‘? Weil erstens niemand normal ist, normal ist ein blödes Wort, und zweitens einen Autisten bestimmte Eigenschaften ausmachen, die a) bei einer Mehrheit der Autisten erkennbar ist, b) von unserer kapitalistischen Kackgesellschaft als „nicht normal“ angesehen werden und c) den Autisten oder seine Mitmenschen auf irgendeine Weise belasten – oder auch bereichern. Prominente Beispiele dafür sind Introversion, Inselbegabungen, starkes (Des-)Interesse an bestimmten, teils obskuren Themen, sozial-emotionale Schwächen und bestimmte, von „normalen“ Leuten als komisch angesehene Denkweisen. So viel weiß auch der Nettonormalbürger, der mal den Wikipedia-Artikel von Autismus gelesen hat. Also denkt er auch zu wissen, dass er weiß, was ein Autist ist. Wieso liegt er also falsch? Weil es noch so viel mehr gibt.

Akt Zwei: Die Menschen

Autisten werden in unserer Gesellschaft stigmatisiert, stereotypisiert und chronisch missverstanden. „Du Autist!“ ist eine prominente Beleidigung auf deutschen Schulhöfen. Autisten werden von Möchtegern-Engeln mit 5-Minuten-Google-Suche-Halbwissen wie Glasvasen behandelt, anstatt nach ihren tatsächlichen Wünschen gefragt zu werden. Filme wie „Rain Man“ oder „Music“ skizzieren gefährliche Stereotypen und falsche Umgangsweisen – die Intentionen waren vielleicht aufrichtig, die Durchsetzungen aber mehr als fragwürdig. Autismus ist und bleibt ein Spektrum. Kein Autist ist wie der andere, es gibt innerhalb des Spektrums verschiedene Strömungen: Kanner, atypischer, Asperger, … Das heißt aber noch lange nicht, dass ein Asperger gleich ein Asperger ist. Manche haben eher weniger Symptome eines stereotypischen Aspergers, andere wiederum viele. Manche sind klassisch introvertiert, andere zeichnen sich durch starke Extroversion aus. Manche sind regelrechte Mathe-Genies, andere kommen mit Sozialwissenschaften viel besser klar.
Und genau dort liegt das Problem: Die Ansicht der Gesellschaft ist, dass ein Autist gleich ein Autist ist – und das ist nunmal einfach nicht der Fall. Ich möchte hier mal einen kleinen Disclaimer hinpacken: Ich rede hierbei über die Gesellschaft. Ich rede über die Massenmedien, über Günther und Anna auf der Straße, über Niklas in seiner Gamergruppe, über Janina und ihre besten Freundinnen. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es von medizinischer und psychologischer Seite viele Angebote und Hilfsmöglichkeiten gibt, und ich bin mehr als dankbar, dass es diese gibt und dass sie sich intensiv und aufrichtig mit ihren Patienten auseinander setzen. Worüber ich rede ist der allgemeine Verständnis- und Wissensmangel vom alltäglichen „Normal“bürger. Ein Autist wird dir in einem Gespräch den Fakt, dass er Autist ist, nicht ins Gesicht drücken. Viele schämen sich dafür, andere denken einfach nicht, dass sie einen Grund haben, es zu erwähnen. Viele Menschen kennen sich jahrelang, ohne zu wissen, dass die jeweils andere Person autistisch ist. Das heißt jedoch nicht, dass uns dieses Thema nicht zu nahe geht. Mich – und bestimmt viele andere auch – beschäftigt es sehr, dass dieser Aspekt unserer Existenz, den wir uns nicht ausgesucht haben, als Beleidung benutzt und missverstanden wird. Es ist einfach, regelrecht gemütlich für Menschen, Dinge, die sie nicht verstehen, mit Stereotypen und Vorurteilen zu erklären, sie totzuschweigen oder zu versuchen, sie wegzuscheuchen – das verstehe ich absolut. So ist der Mensch aufgebaut, so handelt er tagtäglich. Ich denke aber, dass wir über diese Mentalität hinwegkommen können – dass wir gemeinsam für mehr Verständnis und mehr Harmonie schaffen können.

Akt Drei: Die Lösung

Was kann man also tun, um aus dieser Situation herauszukommen? Was kann ich als einzelner Mensch tun, um dieses Problem zu lösen? Kurz gesagt: Nichts. Ein einzelner Mensch kann eine Gesellschaft nicht reformieren. Du kannst aber trotzdem etwas leisten: Informieren, Reden, Verstehen. Du kannst  dich durch seriöse Quellen über Autismus informieren und dir fachliches Wissen dazu aneignen. Du kannst mit Ärzt:innen oder Autist:innen selbst – dafür gibt es einige Foren – über dieses Thema reden und so deinen Horizont erweitern. Und wenn du in dieser Gesellschaft über dieses Thema aufgeklärt bist, haben wir bereits einen weiteren Schritt in die richtige Richtung genommen. Natürlich muss du das nicht. Ich verlange von niemandem, dass er jetzt sofort das medizinische Handbuch aufklappt und Autismus büffelt bis die Ohren qualmen. Ich denke bloß, dass mehr Wissen und Verständnis über dieses Thema der Gesellschaft gut tun würde. Autismus ist da nicht das einzige Thema, was man ansprechen kann und ansprechen muss – es ist bloß eines von vielen.

von: Leon

Veröffentlicht am 26. Februar 2021